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Das Neue Testament auf griechisch: also der Originaltext der heiligen Schriften der jungen Kirche. Wirklich der Originaltext? In Wahrheit nicht einmal die Originalsprache, jedenfalls nicht aller Bücher. Denn Matthäus hat sein Evangelium nach der frühesten Überlieferung ursprünglich in hebräischer vielleicht auch aramäischer Sprache verfaßt. Dasselbe dürfte vom Brief des Apostels Paulus an die Hebräer gelten. Immerhin haben aber nur die jedenfalls sehr frühen griechischen Übersetzungen dieser beiden Bücher allgemeine Verbreitung und schließlich kanonische Geltung erlangt. Die übrigen Bücher sind von vornherein an auf griechisch geschrieben worden.
Dennoch ist die Frage nach dem Originaltext nicht leichthin beantwortet. Die handschriftliche Tradition kennt zahlreiche, mitunter erheblich voneinander abweichende Varianten. Welcher Text ist original? Welchen Text bieten wir, wenn wir die Frage nach der Originalität nicht sicher zu beantworten wissen? Den heute verbreitetsten griechischen Text bietet die wohlfeile von Eberhard Nestle begründete, von Kurt Aland fortgeführte Ausgabe. Wenn wir den Nestle-Aland hier wiedergeben, so sind einige Hinweise zur rechten Einordnung dieses Texts vorauszuschicken. Denn der Nestle-Aland ist nicht einmal eine kritische Edition aus den Handschriften, sondern beruht auf Kollation der wichtigsten kritischen Ausgaben. Der Text stellt also so etwas wie den Versuch dar, gleichsam den gültigen Bibeltext aus dem Vergleich der Entscheidungen anderer Editoren für die eine oder andere Variante herauszudestillieren. Der überaus spartanische Apparat, auf den wir hier ohnedies verzichten müssen, bringt meist wenn überhaupt nur Lesarten der kritischen Editionen, ohne auf die Handschriften zu rekurrieren. Die Entscheidung, welche Details dem Benutzer im Apparat mitgeteilt werden, mutet häufig ebenso willkürlich an, wie die Entscheidung, diese ohne jene Lesart in den eigentlichen Text aufzunehmen, wegzulassen oder als verdächtig einzuklammern. Damit soll nicht gesagt sein, daß der Nestle-Aland unbrauchbar sei denn sonst würden wir den Text hier nicht reproduzieren. Man muß aber den Charakter dieser Edition kennen, um sie mit der nötigen Distanz zu gebrauchen.
Die eigentlich kritischen Editionen von Tischendorf über Westscott und Hort bis von Soden sind freilich nicht minder problematisch. Ohne daß wir hier grundsätzlich auf die Probleme der biblischen Textkritik eingehen könnten, wollen wir doch wenigstens den Kern der Schwierigkeit kurz skizzieren. Die historische und altphilologische Textkritik bewegt sich heute längst weg von den Methoden des neunzehnten Jahrhunderts, das durch nicht selten wildes Kollationieren und Klassifizieren der Manuskripte völlig synthetische Textfassungen erstellt hat, für welche es nicht bloß keine handschriftlichen Zeugen mehr gab, die mit solchem Text unter kritischem Gesichtspunkt noch Ähnlichkeit gehabt hätten, sondern die auch den nachfolgenden Gelehrten keinerlei Hoffnung boten, dem Original des Verfassers näher gekommen zu sein.
Geschichtswissenschaft und Altphilologie gehen darum in deutlicher Tendenz längst den Weg, nur eine gut bezeugte Handschriftenfamilie, ja möglichst nur wenige oder eine einzige Handschrift zur Grundlage des edierten Textes zu machen, wo immer eine klare Entscheidung für die beste und darum editionswürdige Handschrift oder Handschriftengruppe möglich oder begründbar ist. Eine solche Handschrift ist im eigentlichen Text der kritischen Edition dann nur bei offenkundigen Versehen oder Lücken nach andern Manuskripten zu korrigieren oder zu ergänzen. Im übrigen ist der kritische Apparat der Platz, der die abweichenden Lesarten enthält.
Die Theologen hinken hier der wissenschaftlichen Entwicklung um einiges hinterher, und insbesondere die Bibelwissenschaft hat obschon nicht wenige erkennen, wie unzureichend die vorliegenden kritischen Editionen sind überhaupt noch nicht begriffen, daß man andere Wege als die des neunzehnten Jahrhunderts gehen muß, um einen verläßlichen griechischen Text des Neuen Testaments zu gewinnen. Dies gilt leider auch für die im Auftrag Papst Pauls VI. tätigen Gelehrten, die jene neue lateinische Bibel die Nova Vulgata erstellt haben, die Johannes Paul II. im Jahre 1979 promulgiert und als für die ganze Kirche verbindlich erstellt hat. Abgesehen von nicht wenigen Übersetzungsschwächen und der andernorts zu behandelnden Problematik des Alten Testaments legt diese Nova Vulgata häufig Lesarten der kritischen Editionen zugrunde, im blinden Glauben, damit den vermeintlichen Originaltext lateinisch wiederzugeben: ein unguter Schnellschuß, dessen Eindringen in sämtliche offiziellen liturgischen Bücher lateinischer Sprache die Sache weder besser noch auch dauerhafter macht. Eine erneute Revision dürfte unumgänglich sein.
Die Kardinalfrage lautet nun aber: Welchen Text soll man als maßgeblich ansehen und einer kritischen Edition zugrundelegen oder als für den liturgischen Gebrauch verbindlich erklären? Wir wollen wir keine Antwort geben. Dazu müßten wir tiefer in die biblische Handschriftenkunde eintauchen, als an dieser Stelle möglich ist. Wir wollen aber den Text von Nestle und Aland auch nicht allein für sich stehen lassen. Immerhin gibt es eine Alternative: den sogenannten Textus receptus. Dieser rezipierte Text beruht im wesentlichen auf den in der griechischen Kirche und zwar bis heute! im Gebrauch befindlichen Büchern. Er geht in der überlieferten Fassung zurück auf die Zeit des beginnenden Buchdrucks. 1514 veranstaltete Franz Ximenes de Cisneros, Erzbischof von Toledo, auf Grundlage weniger, aber sehr guter Handschriften der byzantinischen Tradition des byzantinischen Mehrheitstextes die erste Druckausgabe des griechischen Neuen Testaments. Zwei Jahre später hielt Erasmus von Rotterdam im Auftrag des geschäftstüchtigen Basler Buchdruckers Froben mit einer eigenen, aber weniger sorgfältig gearbeiteten Edition dagegen. 1540 schuf der Pariser Buckdrucker Robertus Stephanus (Robert Estienne) auf Basis dieser beiden Editionen seine Ausgabe, deren Editio Regia von 1550 auch einen textkritischen Apparat erhielt und die bis zum Erscheinen der kritischen Editionen des neunzehnten Jahrhunderts fürs Abendland als Textus receptus maßgeblich blieb.
Was diesen Text abgesehen von allen Argumenten der Textkritik, die unseres Erachtens auch auf ihn oder in seine Richtung deuten besonders auszeichnet, ist seine Beglaubigung durch die Tradition des liturgischen Gebrauchs in den östlichen Kirchen des byzantinischen Ritus. Nicht als abschließenden, gültigen Text wollen wir ihn darum präsentieren, wohl aber als notwendiges Korrektiv zum Nestle-Aland-Text. Eigentlich möchten wir dem Textus receptus gleich den Vorrang geben: Doch können wir bis auf weiteres lediglich eine spartanische Edition bieten, die den blanken Text in Minuskeln ohne Interpunktion und ohne diakritische Zeichen wie Akzente und Spiritus enthält. Unser Nestle-Aland dagegen kommt mit all diesen Vorzügen daher, die die Lektüre ungemein erleichtern, wiewohl sie, wenn mans strikt historistisch betrachtet, einen dem Urtext fremden Anachronismus darstellen. Der Nestle-Aland sei also zur Lektüre durchaus empfohlen, aber spätestens wenn sich Zweifel an der eigentlichen Textgestalt erheben, besser aber immer, werfe man einen Seitenblick in den Textus receptus.
Robert Ketelhohn