Einführung

Ammianus Marcellinus, der letzte große heidnisch-römische Historiker, um 330 in Antiochien geboren, gestorben in Rom um 395 oder bald danach, war ziemlich exakt eine Generation mit den großen Kirchenvätern Ambrosius und Gregor von Nazianz – und stammte doch aus einer gänzlich andern Welt, wie sein Werk als nahezu einzige Quelle über sein Leben uns lehrt. Einer wohlhabenden griechischen Familie angehörend, diente er als Offizier im römischen Heer. Im Jahre 353 trat er in das Elitecorps der protectores domestici ein und wurde dem Stab des magister equitum Ursicinus zugeordnet, dem er an wechselnden Schauplätzen zwischen Gallien und Mesopotamien diente. Nach der Absetzung des Ursicinus im Jahre 360 nahm Marcellinus noch am Perserfeldzug des Kaisers Julian Apostata teil (362/363), danach zog er sich ins Privatleben zurück und oblag in seiner antiochenischen Heimat litterarischen, historischen und geographischen Studien. Auch scheint er Studienreisen nach Ägypten und Griechenland unternommen zu haben.

Im Jahre 380 siedelte er nach Rom über. Der dortigen herrschenden Schicht stand er kritisch bis ablehnend gegenüber; nur einzelne Vertreter der heidnisch-konservativen Aristokratie, wie Nicomachus, Prætextatus und Symmachus, hatten seine Sympathie. Ob und welchen Kontakt er mit ihnen hatte, bleibt ungewiß: Indizien gibt es für einen Briefwechsel mit Symmachus.

Des Marcellinus Werk, die „Res gestæ“ in 31 Büchern, versteht sich als Fortsetzung des großen Cornelius Tacitus. Es reicht vom Kaiser Nerva, also vom Jahr 96, bis zum Tode des Valens im Jahre 378. Die ersten dreizehn Bücher, die verloren sind, behandelten in jedenfalls recht straffer Form die Zeit bis 352, wobei Marcellinus vor allem aus Sekundärquellen schöpfte, so aus Cassius Dio und Herodian. Ab 353 schreibt er – und zwar bei weitem ausführlicher als zuvor – Zeitgeschichte, die er selbst erlebt und selber mitgestaltet hat.

Veröffentlicht hat Marcellinus die Bücher seines Werks sukzessive ab etwa 390. Der Stil ist annalistisch, den Gegenstand hat man „Reichsgeschichte“ genannt, doch treffender sollte man sagen: historia urbis et orbis, die Geschichte der Stadt und des Erdkreises. Rom bleibt das ideelle Zentrum, auch wenn die Ereignisse sich andernorts abspielen.

Eingeflochten sind Kurzviten der behandelten Kaiser jeweils zum Ende ihrer Regierung, eingeflochten sind auch zahlreiche geographische und völkerkundliche Exkurse, und eingeflochten oder besser allenthalben eingestreut sind litterarische Anspielung und Zitate als Zeugnisse beachtlicher Bildung. Insbesondere diese letztgenannte Eigenheit hat dem Ammianus Marcellinus mancher moderne Historiker übelgenommen.

Sprachlich wirkt in der Tat manches etwas geschraubt, überflüssigerweise verkompliziert. Taciteische Kürze allerdings darf man nicht erwarten, denn diese hat außer Tacitus selber noch keiner zustande gebracht. Immerhin sollte man nicht vergessen, daß des Marcellinus Muttersprache Griechisch war – und das merkt man seinem Werk nicht an.

Robert Ketelhohn