Widukind von Corvey, der Historiker des Sachsenstamms und Mönch zu Corvey, tritt uns fast ausschließlich in seinem einzig überlieferten Werk entgegen, den Res gestæ Saxonicæ. Widukind trat etwa zwischen 940 und 942 in die Abtei Corvey beim sächsischen Höxter ein, eine Tochtergründung der lothringischen Benediktinerabtei Corbie aus karolingischer Zeit. Wie alt Widukind zu dieser Zeit war, ist nicht bekannt; mit Gewißheit läßt sich sein Geburtsjahr nur aufs erste Drittel des zehnten Jahrhunderts eingrenzen. Die Abfassung der Res gestæ Saxonicæ fällt in die zweite Hälfte der sechziger Jahre des zehnten Jahrhunderts; ein Nachtrag ist nach dem Tode Ottos des Großen im Jahre 973 angefügt worden. Auch Widukind selbst ist wahrscheinlich nicht lang danach gestorben.
Wiewohl auch über Widukinds Herkunft nichts Konkretes bekannt ist außer daß er sächsischen Blutes war , so ist die Vermutung doch wohl begründet, daß er zum Hochadel zählte. Der seltene Name könnte als Indiz auf Verwandtschaft mit jenem aufständischen Sachsenführer Widukind verstanden werden, der schließlich von Karl dem Großen bezwungen wurde und sich dem Kaiser unterwarf; allein dies bleibt Spekulation, die anderweitig keine substantielle Bestätigung erfährt.
Daß Widukind vor Niederschrift seiner Sachsengeschichte auch Heiligen- oder Märtyrerleben beschrieben hat, wissen wir gleichfalls nur aus den den Res gestæ selber, deren Einleitung, einem antiken Topos folgend, die Rechtfertigung des Autors für sein Werk enthält, indem sie sich auf jene zuvor verfaßten Heiligenleben beruft.
Widukinds Sachsengeschichte ist Mathilde gewidmet, der Tochter Ottos des Großen und Äbtissin von Quedlinburg. Das erste Buch behandelt die hinsichtlich der Anfänge mythische Vorgeschichte der Sachsen, den Anteil Sachsens am ostfränkisch-deutschen Reich und schließlich den Übergang der fränkischen Königskrone auf die Sachsen und das Königtum Heinrichs I.
Buch II beginnt mit Ottos Königswahl im Jahre 936, Buch III schließt mit dessen Tod im Jahre 973. Die Darstellung der dazwischenliegenden Geschichte durch Widukind ist von der modernen Historiographie immer wieder sehr kontrovers diskutiert worden. Hier ist nicht der Platz, die Streitfragen darzustellen. Nur wenige Anmerkungen mögen genügen; zuerst gilt es festzustellen, daß Widukind die politische Geschichte seiner Zeit als Sachsengeschichte schreibt, und zwar mit unverkennbarem Stolz. Das sächsische Herzogsgeschlecht der Liudolfinger hat für ihn mit der Krone auch das Königsheil der Franken übernommen. Das ohnehin schon ausgezeichnete, ja auserwählte Sachsenvolk hat in Widukinds Augen mit dem Erbe Karls des Großen gleichsam den Gipfel seiner Bestimmung erreicht.
Karl der Große hat in dieser Geschichtsschau auch für die Sachsen eine wichtige Funktion: Er war es, der Sachsen getauft hat, der den Sachsen das Christentum gebracht und die Widerstände heidnischer Rebellion gebrochen hat. Einerseits wird daran deutlich, wie die Christianisierung der Sachsen innerhalb weniger Generationen zum wesentlichen Teil des völkischen Selbstverständnisses geworden ist. Andererseits ist aber auch unverkennbar, daß der Konflikt zwischen Kaiser Karl und Teilen des heidnischen Adels zur Zeit Ottos I. in abgewandelter Form wiederkehrt: nämlich in Gestalt mehrerer Aufstände von Adelsfaktionen gegen Ottos Herrschaft, worüber Widukind ausführlich berichtet. Wenn es sich auch nicht mehr um explizit heidnische Rebellionen handelte, so ist doch deutlich, wie die Berufung auf Karl den Großen bei Widukind von Corvey auch eine aktuelle politische Funktion hat.
Dem christlichen Glauben, wie er uns aus Widukinds Werk entgegentritt, scheint ein wesentliches Element zu fehlen: das der Universalität oder, wenn man so will, der Katholizität. Der römische Bischof kommt gar nicht vor, und wenn vom summus pontifex die Rede ist, so ist regelmäßig der Erzbischof von Mainz gemeint, gelegentlich wohl auch der Kölner. Die Art und Weise, wie da das Christentum beinahe zur Stammesreligion wird, unterscheidet sich erheblich von der durchaus auch geradezu staatsbildenden Funktion des Christentum für andere Völker, wie etwa Armenier, Franken oder Kiewer Rus. Diese Völker waren sich sehr bewußt, mit ihrer Taufe gleichsam in die universelle, katholische Kirche einzutreten. Anders in Widukinds Sicht der Sachsengeschichte: Hier kommt außerhalb Sachsens die Kirche nahezu gar nicht vor.
Freilich ist dies nicht die Sicht des sächsischen Königshauses, jedenfalls nicht Ottos des Großen und seiner Nachkommen. Die unterschiedlichen Anschauungen spiegeln sich in Ottos Politik und ihrer Darstellung bei Widukind: Die Italienpolitik des Königs klammert der Historiograph nahezu völlig aus, die Kaiserkrönung des Jahrs 962 kommt bei ihm nicht vor. Wie ist dieser Umstand zu interpretieren? Sieht das ottonische Kaisertum mit seinem universellen Anspruch sich einer inneren Opposition gegenüber, einer Opposition der eigenen Anhängerschaft neben den offenen Rebellen , die womöglich ebensowenig wie die Aufrührer die Sachsen in den Dienst einer außersächsischen Sache gestellt sehen wollte? Oder haben wir es nur mit einer Taktik Widukinds zu tun, mit einer Form von Propaganda: nämlich eine unbeliebte Politik, die Widerstand gewärtigen mußte, möglichst niedrig zu hängen, ja so weit als möglich ganz zu verschweigen? Gleichsam offiziöse Sprachregelungen für das Königshaus selber zu treffen, ist das Werk doch der Kaisertochter gewidmet?
Gegen eine solche Interpretation spricht wiederum die konsequente wiewohl erfolglose Fortsetzung der ottonischen Italienpolitik durch Otto II. und erst recht die grandiose Ausweitung der Rom-Idee durch Otto III. Andererseits darf man nicht denken, Widukind von Corvey habe es etwa an der Fähigkeit gemangelt, über den sächsischen Horizont hinaus zu blicken. Seine umfassende klassische Bildung ist überall in seinem Werk sichtbar, die altrömischen Vorbilder sind deutlich, an erster Stelle Sallust, dem der Sachse nacheifert und hinter dem er stilistisch und kompositorisch durchaus nicht zurückbleibt. Auch dies gewiß kein Zufall, daß gerade der konservative Sallust ihm als Vorbild dient.
Jedenfalls sind um Widukind noch reichlich Fragen offen und werden vielleicht auch offen bleiben. Sicher ist dagegen eines: Der Mönch von Corvey hat mit seiner Sachsengeschichte ein litterarisches Meisterstück politischer Historiographie abgeliefert, das den interessierten Leser noch heute ebenso zu fesseln vermag wie den Wissenschaftler, der sich um die Beantwortung der letzten oder vielleicht doch bloß vorletzten Fragen müht.
Robert Ketelhohn