»Confessiones«, Teil I

Robert KetelhohnWie kommt einer heute, da der katholische Glaube von so vielen als überholt und abwegig angesehen wird, dennoch dazu, zur katholischen Kirche zu konvertieren? – Die Frage wird immer wieder gestellt, und sie verdient eine aufrichtige Antwort. Freilich muß ich dazu etwas weiter ausholen, denn mit einem knackigen „Damaskusereignis“ vermag ich nicht aufzuwarten. Ich versuche einfach, meinen Heimweg in die Kirche in seinen Etappen der Reihe nach zu beschreiben. Freilich beginnt dieser Weg mit vielen Irrwegen. Aber die gehören auch dazu.

Angefangen hat es – natürlich – mit meiner Geburt, am 29. März 1964. Es war übrigens Ostern, weshalb ich auch beinahe verreckt wäre, weil Ärzte und Hebammen feucht-fröhlich feierten und meine Mutter vier Stunden lang mit Preßwehen liegen ließen, während ich halb drin, halb draußen stak. Und weil meine Mutter – nach dem Motto: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ – zu stolz war, als daß sie um Hilfe hätte rufen mögen. Schließlich zerrte doch mein Schutzengel eine Hebamme herbei: Ich wurde gerettet und knapp zwei Monate später, am 17. Mai 1964, von einem protestantischen Pastor getauft.

Die ersten paar Jahre meines Lebens wurde ich – wie meine um zwei Jahre jüngere Schwester – halbwegs christlich-protestantisch erzogen: Mutter erzählte uns was vom lieben Gott oder aus der Bibel, sie betete abends mit uns und dergleichen. Das ging so, bis ich etwa fünf Jahre alt war. Die '68er Kulturrevolution brachte den großen Bruch, ab etwa 1969 oder spätestens 1970 gab es Religion in unserm Hause eigentlich nicht mehr. Heiligabend gingen wir in die Kirche, weiter nichts. Unsere jüngste Schwester, 1973 geboren, wurde zwar gemäß der Tradition auch noch getauft, hat aber keinerlei religiöse Erziehung mehr erhalten, nicht einmal das rudimentärste Basiswissen. Meine Eltern bestreiten als gute konservative Bürger übrigens heute, daß dieser Abbruch der religiösen Erziehung irgendwas mit '68 zu tun habe, doch der Tatbestand ist allzu offensichtlich (und meine formal-protestantische Schwester teilt meine Einschätzung in diesem Punkt völlig): Die Auswirkungen der Kulturrevolution haben auch diejenigen mit in ihren Strudel gerissen, die selber meinten, dagegen zu stehen.

Vater war zwar noch einige Jahre lang in der örtlichen protestantischen Gemeinde als Mitglied des Gemeindekirchenrats tätig, doch das war sozusagen seine Privatsache, mit der Familie hatte es nichts zu tun. Das ging so lange, bis er eines Tages nach einer Gottesdienstfeier vor versammelter Gemeinde den Pfarrer – einen in der Wolle gefärbten Marxisten – einen Wolf im Schafspelz nannte; übrigens mehr aus politischer Motivation denn aus religiöser. Von da ab war das Band zerschnitten.

Ich selber bin dann also ohne irgendeinen Bezug zum christlichen Glauben aufgewachsen. Der Bundestagswahlkampf 1976, den damals Kohl knapp verlor, hat mich politisch sensibilisiert. Mit 15 trat ich in die Schüler-Union ein, mit 16 in Junge Union und CDU. An meiner Schule gründete ich eine Schulgruppe der Schüler-Union, 1980 kämpfte ich hart , bis meine Eltern schließlich doch die CDU mit dem Kanzlerkandidaten Strauß wählten und nicht die FDP. Bald hatte ich diverse Ämter in JU und CDU.

Zwischendurch wurde ich noch – zusammen mit meiner Schwester – in den Konfirmandenunterricht geschickt, mit 16 eingesegnet. Das war halt Tradition, daß mußte sein. Aber eigentlich sagte mir der Glaube gar nichts, ich nutzte vielmehr die Gelegenheit zu Kämpfen mit dem besagten marxistischen Pfarrer. Doch diese Episode war bald vorüber, ich blieb in der Politik. Während meine Haltung sich immer stärker preußisch und deutsch-national ausprägte, lehnte ich immer mehr und schließlich ganz bewußt das Christentum ab. Ich suchte sehr wohl nach einer Art „geistiger Heimat“, las die nationalliberalen Litteraten des 19. Jahrhunderts wie Gustav Freytag und Felix Dahn, ich verschlang fasziniert die Zeugnisse der nordischen Mythologie, namentlich die Edda, versuchte altnordisch zu lernen und wenigstens die Völuspá einmal im Original gelesen zu haben, ich lernte gotisch – was mir entschieden leichter fiel als altnordisch – und konnte immerhin Wulfilas gotische Bibel recht flüssig lesen. Da war ich denn doch wieder mit dem Christentum konfrontiert – aber die Bibellektüre konnte meine Ablehnung bloß festigen.

Als 1982 Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, bedeutete dies für mich eine große Freude, Siegestaumel gewissermaßen, und zugleich Hoffnung auf die von Kohl verheißene „geistig-moralische Wende“ – ohne daß ich mir wirklich klar darüber war, was eigentlich ich erwartete oder was ich von Kohl erwarten konnte. So folgte auch bald die Ernüchterung. Fritz Zimmermanns Wort vom „Ankündigungskanzler“ ist mir noch in guter Erinnerung. Es traf genau mein Empfinden. Ich war zutiefst enttäuscht von der Politik, legte 1984 meine Ämtlein nieder und zog mich „ins Privatleben“ zurück.

Allein schon gut zwei Jahre später fing die Politik mich wieder ein. Diesmal der RCDS. Ein Freund brauchte mich für einen Vorstandsposten, so sagte ich schließlich zu. Mit dieser Entscheidung handelte ich mir am Ende 2 ½ Jahre als Akademischer Senator der FU Berlin ein, dazu 1988/89 das Amt des Berliner RCDS-Landesvorsitzenden. In diese Zeit fällt jedoch ein tiefgreifender Wandel in meinem Denken. Ich habe das erst nachträglich rekonstruieren können, denn zunächst vollzog sich dieser Wandel unbewußt. Ich beschäftigte mich damals intensiv mit der deutschen und italienischen Geschichte, besonders des sogenannten „Mittelalters“. Mein Standpunkt war geprägt von der preußisch-protetantisch-kleindeutschen Schule, also der Richtung eines Droysen, Sybel, Treitschke. Die Kirche, das Papsttum waren für mich die Feinde. Ich konnte aber nicht umhin zur Kenntnis zu nehmen, daß es auch die Gegenposition gab, in der Historiographie mit dem Namen Ficker verbunden. Ja selbst ein ausgewiesener Deutschnationaler wie Johannes Haller hatte ein großes Werk über das Papsttum geschrieben, das schlicht Faszination ausstrahlte.

Ich begann also, auch die „Gegenseite“ in ihren Äußerungen zur Kenntnis zu nehmen. Nehmen wir, um es deutlich zu machen, das klassische Beispiel des Investiturstreits: Ich las nun auch die „Propagandisten“ der päpstlichen Seite, und irgendwann wurde ich gewahr, daß meine Sympathie nicht mehr Heinrich galt, sondern Gregor dem VII. Mittlerweile hatte ich – es war im Laufe des Jahres 1987 – Konzilstexte verschlungen, zuerst die „mittelalterlichen“, dann ging ich bis Konstantinopel und Nizäa zurück, dann packten mich die Kirchenväter, vor allen Augustin. Gerade Augustin wurde der eigentliche Lehrer des Glaubens für mich. Wie kann ich das am besten erklären? Vielleicht, mag es auch schwülstig klingen, folgendermaßen: Wenn ich Augustin las, war das, als ob ein virtuoser Musiker vollendete Harmonien auf seinem Instrument – meiner Seele – hervorbrächte. Mit einem Wort: Das Faszinosum der Kirche hatte mich ergriffen, das Gefühl ebenso wie den Verstand. Das im übrigen diese Kirche, die ich da gefunden hatte, die katholische war, das war mir so selbstverständlich, daß ich nicht weiter darüber nachdachte.

Während dessen war ich aber, wie gesagt, intensiv politisch tätig. Die Ämter zogen mich immer häufiger zu Sitzungen nach Bonn. Oft stand ich in den Beratungen und Debatten, ja in manchen Fragen fast immer, als Einzelkämpfer allein: ob es um die Gentechnik ging (ja, damals schon) oder um den sich abzeichnenden Krieg in Jugoslawien (was mir damals, 1988, noch niemand glauben wollte). Ich war gleichsam zwischen zwei gegensätzlichen Welten ausgespannt, der neuen Heimat, die irgendwo zu Hause zwischen meinen Büchern lag, und der politischen Sphäre, die mit ihren mir immer unbegreiflicher werdenden Anschauungen von der andern Seite an mir zerrte, übrigens auch mit den Zwängen, Forderungen und Lockungen des korrupten politischen Tagesgeschäfts in der Partei ebenso wie an der Universität.

So war ich innerlich gleichsam zerrissen, ohne irgendeine Entscheidung treffen zu können. Übrigens war Augustinus selber lange Zeit in einer gar nicht unähnlichen Situation. Von meinem Leben jedenfalls hatte der Glaube noch nicht Besitz ergriffen, ja ich kam nicht einmal im Traum auf die Idee, was ich dazu hätte tun sollen. Es geschah dann gänzlich unvorbereitet, wie zufällig. Bei einem RCDS-Stammtisch mit Berliner Kommilitonen kam das Gespräch auf die protestantische „Kirche“. Die meisten – allesamt selber Protestanten – brachten ihren Ärger über die „linken Pfarrer“ zum Ausdruck. Da verkündete ich plötzlich und unvermittelt vor aller Ohren, für mich sei das gar nicht mehr relevant, ich würde ohnehin zur katholischen Kirche konvertieren. – Zack! da war es gesagt. Ringsum große Augen. Ich war selber perplex und wimmelte verdutzte Nachfragen sicherheitshalber erst einmal ab. Ich hatte ja überhaupt keinen derartigen Plan gehabt!

Heute kann ich den Herrn nur preisen, den lebendigmachenden Geist, der da wie mit einem grellen Blitz Klarheit geschaffen hatte. Denn nun war ich, durchs öffentliche Bekenntnis, im Zugzwang. Kaum zu Hause, suchte ich mir aus dem Telephonbuch die nächste katholische Kirche heraus. Meine Güte, nicht einmal das hatte ich bis dahin gewußt! Ich fand also die Kirche heraus, fand heraus, wann am Sonntag die Messe war, und ich ging hin. Seit diesem Tag ging ich sonntags in die katholische Messe. Das ging einige Monate – während derer ich fleißig das Dogma studierte und nebenbei auch merkte, daß nicht alles Gold ist, was sich dickleibig zwischen glänzenden katholischen Buchdeckeln breitmacht –, bis das Verlangen nach Teilnahme an der Kommunion immer stärker wurde. Ich suchte also den Pfarrer in seiner Sprechstunde heim – und erschreckte den armen Mann wohl fast zu Tode mit meinem Wunsch nach Konversion. Das hatte er noch nicht erlebt. Er schickte mich mit dem Bescheid weg, ein paar Tage später wiederzukommen, denn er müsse sich erst mal beim bischöflichen Ordinariat erkundigen, was in solch einem Fall zu tun sei.

Um es kurz zu machen: Ich wurde zu den Jesuiten geschickt, die mit der „katholischen Glaubensinformation im Bistum Berlin“ beauftragt waren, fand dort lange und tiefschürfende theologische Gespräche – leider nicht die praktische Anleitung, die ich erhofft hatte – und wurde schließlich in der Osteroktav 1989 an meinem 25. Geburtstag in die Kirche aufgenommen. Am ersten April 1989 folgte die Erstbeichte, am 2. April die Erstkommunion. Langsam, langsam begann Christus, mein Leben zu formen und neu zu machen, völlig neu. Pfingsten 1991 wurde ich gefirmt. Das ist mein Weg heim zur heiligen Mutter Kirche. In manchem gewiß sonderbar, aber mein Weg. – Seitdem ist manches Jahr vergangen, alles andere als geradlinig, voll von Kämpfen. Aber ich kann glücklich und dankbar zurückschauen und meinen Herrn Jesus Christus rühmen und preisen für alles, was er mir geschenkt und was er an mir getan hat: Ihm sei Lob und Ehre und aller Preis in Ewigkeit. Amen. Alleluja.

Robert Ketelhohn, im März 2001